Die Wilde Jagd, die alten Geister reiten durch Europa

Die Zeit zwischen der Tag- und Nachtgleiche im Herbst und jener im Frühling ist seit je her bevölkert von düsteren Sagengestalten und Mythen, die mit der Anderswelt in Verbindung stehen. Vielfältige Ahnenfeste, Totenrituale und Geistererzählungen prägen in manchen Regionen bis heute das Brauchtum und die religiöse Vorstellungswelt der Menschen. Über den ganzen europäischen Kontinent verbreitet ist die Sage von der Wilden Jagd, einem Heereszug von Toten und Dämonen, von wilden Tieren und Geisterwesen, der in den Rauhnächten über den dunklen Winterhimmel zieht.

The Wild Hunt
The Wild Hunt

Die konkrete Ausgestaltung des Mythos ist in den verschiedenen Regionen sehr unterschiedlich. Manchmal bittet die Wilde Jagd um Essensgaben und hat die Macht, eine gute Ernte zu bescheren. In anderen Varianten der Sage nehmen die Untoten jeden mit, der Zeuge ihrer grausigen Ankunft wird.

Die wahren Ursprünge dieses Mythos bleiben im Dunkel der Geschichte verborgen; das Kernstück der Sage vermischt sich jeweils mit lokalen Bräuchen und Traditionen, mit Folklore im Widerschein konkreter Kultorte. So ist es in Deutschland und Skandinavien wahlweise der Göttervater Wotan/Odin, der das Heer anführt, oder Frau Holda/Perchta, eine Sagengestalt, die ihrerseits die Erinnerung an uralte Gottheiten verkörpert. Auf den Britischen Inseln reitet König Herla oder ein wilder Jäger dem Tross voran, die Franzosen kennen die Sage indes als „Mesnie Hellequin“ (Hauststand des Hellequin). Auch für die slawischen Gebiete und den iberischen Raum sind vergleichbare Erzählungen und Bräuche belegt, sodass im Hinblick auf die Wilde Jagd zurecht von einem gesamteuropäischen Mythos gesprochen werden kann. Zumeist wird die Erscheinung des Geisterzugs in den Wintermonaten und speziell in den Rauhnächten zwischen der Wintersonnenwende und dem Dreikönigsfest am 6. Januar verortet.

Über den Ursprung des Mythos gibt es viele Theorien: Während manche in den rauen Winternatur mit ihren Schneestürmen und langen Nächten den Ursprung der Sage sehen und den Wilden Jäger und sein Gefolge als metaphorische Personifikation der Naturgewalten verstehen, erkennen andere in den vielen Maskenbräuchen und den Perchten- und Fastnachtszüge eine Erinnerung an alte Kultbräuche aus der Vorzeit: Das Umherziehen wilder Jungenbanden, die in einem initiatorischen Akt die Rolle der Toten auf Erden einnahmen und – rituell in die eigenen Ahnen verwandelt – um die Häuser der Lebenden spukten.

Egal welcher Deutung man folgt, fest steht jedenfalls: Für die Menschen der Vorzeit waren gerade die vermeintlich stillen und öden Wintermonate eine Zeit voller Leben und Bedeutung, der dunklen Nachthimmel war bevölkert mit grausigen und wunderbaren Wesen, die in dieser Zauberzeit zur Erde hinabstiegen.

Heute erscheint uns dieser einstmals belebte Himmel trübe und verhangen. Kein Totenpferd wiehert in der Nacht und was man für ein gespenstisches Leuchten halten könnte, ist nur das grelle Licht der Fabrikscheinwerfer und Straßenlaternen, das vom grauen Wolkenschild abprallt. Die Häuserschluchten sind ungastlich geworden für Besucher aus anderen Welten; das Geheul des himmlischen Jagdzuges geht unter in den Misstönen der Autobahnen und dem titanischen Gewimmel der Megastädte.

Und doch gibt es manche, die nicht müde werden, in die uralte Melodie der frostigen Winternächte hineinzulauschen: Das Ächzen der Föhren unter der Last des Neuschnees, das Krachen berstender Felsen in der Klammschlucht und das Geheul der Stürme über den weißgefrorenen Ebenen – noch sind die rauen Rhythmen der Natur nicht verstummt. Und wer weiß, ob sich über dieses wilde Lied nicht in einem fernen Tal noch immer das Geheul der Wilden Jagd erhebt; vernommen von wissenden Ohren in warmen Stuben, die mit derselben Mischung aus Furcht und Sehnsucht in den zerrissenen Himmel blicken wie ihre Ahnen Jahrtausende vor ihnen.

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Über den Autor

Words "Once upon a time" written with old typewriter

Ingmar Hagedorn

Postmoderner Skalde, auf der Suche nach Anklängen an die ewigen Götter in germanischen Mythen und Gedichten.

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