Der Frühling und die Göttin der Morgenröte

Während vielerorts der Frost noch tief im Boden hockt und die Gebirge unter einer dicken Schneedecke schlafen, zeigen sich in geschützten Winkeln und an sonnigen Plätzen schon die ersten Vorboten des Frühjahrs: Schneeglöckchen und Krokusse begrüßen die ersten wärmenden Sonnenstrahlen, die jungen Bäume fangen an zu knospen und die ersten Vögel beziehen ihre Nistplätze.

L'Inspiration by Gustave Moreau
L'Inspiration (Die Inspiration), Gustave Moreau
Hésiode et la muse (Hesiod und die Muse), Gustave Moreau
La Fée by Gustave Moreau
La Fée (Die Fee), Gustave Moreau

In diesen zaghaften Zeichen – in der Sonne, die nun auf höheren Bahnen über den Himmel zieht, in den Hainen und Gebüschen, in deren Adern die Säfte des Lebens schwellen – offenbart sich das Wirken der jugendlichen Gottheit des Morgenlichts, wie sie einst wohl im ganzen indoeuropäischen Raum verehrt wurde. Belegt ist etwa die griechische Göttin Eos, die eng verwandt ist mit der römischen Aurora – der Namensgeberin der Nordlichter (Aurora Borealis). Auch kennt die baltische Überlieferung die Göttin Aušrine und den Gott Auskelis (Gott des Morgensterns) bei den Litauern und Letten. Alle diese Gottheiten sind etymologisch verwandt und werden von Sprachwissenschaftlern auf die vermutete indoeuropäische Gottheit „*h₂éwsōs“ (von *h₂(e)wes – „leuchten, rot glühen, flammen“) zurückgeführt. Auch der indische Rig Veda kennt eine Lichtgöttin namens Ushas, ebenso ist die Himmelsrichtung des Sonnenaufgangs – der Osten – aus dieser Etymologielinie entstanden.

Obgleich bei allen diesen Gottheiten der mythologische Bezug zum Frühling naheliegt, ist es die germanische Göttin Ostara, welche diese Verbindung am besten verdeutlicht. Sie wird zuerst beim christlichen angelsächischen Chronisten Beda erwähnt, der ihr den Eosturmonath (April; ahd. Ôstarmânôt = Ostermonat) zuordnet und beschreibt, dass die Angelsachsen vor ihrem Übertritt zum Christentum in dieser Zeit eine Göttin namens Eostre verehrten.

Archäologisch ist diese Göttin nur schwer nachzuweisen und oft wurde die Vermutung geäußert, dass Beda sie mit der damals durchaus üblichen dichterischen Freiheit als Mythologem erfunden hat. Hält man sich jedoch vor Augen, dass im gesamten indoeuropäischen Raum Gottheiten vergleichbaren Namens mit frühlingshaften und lichtvollen Attributen verehrt wurden und werden, erhält die Theorie von der germanischen Ostara neues Gewicht. Hinzu kommen etliche Randbemerkungen in Chroniken und Berichten der Frühen Neuzeit, die in Orten des sächsischen Siedlungsraumes von heidnischen Frühlingsfeuern berichten, die im April oder zur Frühjahrsequinox entzündet wurden; in diesem Kontext werden z.B. die westfälischen Externsteine noch 1750 als “Eostrae Rupes” (Ostaras Felsen) bezeichnet.

The Woman of Zvejnieki by PEKLE on Mythopoetic
Die Frau von Zvejnieki, Pekle

Fest steht in jedem Fall, dass auch das christliche Osterfest seinen Namen von jener mysteriösen Gottheit des Frühlingserwachens und des Morgenlichtes geerbt habt und viele Fruchtbarkeitssymbole (Hase, Ei, Blumen und Blüten) sich bis heute in der volkstümlichen Ausschmückung der Osterfeierlichkeiten findet. Auch die Terminierung des Osterfestes am ersten Sonntag nach dem Frühjahrsvollmond zeigt vorchristliche Bezüge: So folgten die Germanen einem lunisolaren Kalender und feierten ihre traditionellen Rituale stets am Vollmond nach den Sonnenfesten (den Sommerwenden und Äquinoktien). Wie wir sie auch nennen wollen – Ostara, Eostre, Auskelis, oder Aurora – nach wie vor verschafft sich die jugendliche Gottheit Geltung in dieser Welt; unaufhaltsam wie die erste Knospe, die sich unter den warmen Fingern des Frühjahrsmorgens zur Blüte entfaltet.

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Über den Autor

Ingmar Hagedorn

Postmoderner Skalde, auf der Suche nach Anklängen an die ewigen Götter in germanischen Mythen und Gedichten.

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