Wolfszeit und Ragnarök – Das Weltenende in der nordischen Mythologie

Brüder kämpfen und bringen sich Tod,
Brudersöhne brechen die Sippe;
arg ist die Welt, Ehbruch furchtbar,
Schwertzeit, Beilzeit, Schilde bersten,
Windzeit, Wolfzeit bis die Welt vergeht-
nicht einer will des andern schonen.
– Völuspá

So, wie die indische Mythologie das Kali Yuga kennt und Hesiod und Ovid vom „Eisenzeitalter“ schreiben, so findet sich auch in der germanischen Mythologie ein Bericht über eine Zeit der Konflikte und des Niedergangs, die das Ende und die Zerstörung der uns bekannten Welt einläutet. In einem der wichtigsten Texte der Liederedda, der Völuspá wird dieser Vorgang eindringlich beschrieben.

L'ombre du loup (The Wolf's Shadow) by Joanna Maeyens
L'ombre du loup (The Wolf's Shadow) by Joanna Maeyens

Am Anfang des Ragnarök (Schicksal der Götter) steht der Fimbulwinter (= Der Große Winter), der drei Jahre lang auf der Erde liegt, ohne, dass der Sommer Einzug hält. Die Sonne verdunkelt sich und Schnee fällt aus allen Himmelsrichtungen auf die Erde. Auf den Fimbulwinter – im Schwedischen hat sich auch der Begriff Vargavinter (Wolfswinter) erhalten – folgt das, was in der Völuspá als „Wolfszeit“ (vargöld, eigentlich „Wolfsalter“) beschrieben ist: Die sittlichen Grundpfeiler der menschlichen Gesellschaft brechen zusammen, Familienangehörige und Sippen wenden sich gegeneinander und unzählige Kriege verheeren die Erde. Der römische Dichter Titus Maccius Plautus schrieb in seiner Komödie Asinaria “lupus est homo homini” – „ein Wolf ist der Mensch dem Menschen“ – genau diese Bedeutung hat der Begriff der „Wolfszeit“ in diesem Kontext. Das Altnordische „vargr“ trägt nämlich nicht nur die naheliegende Bedeutung „Wolf“, es wurde auch verwendet um Geächtete und Übeltäter oder wörtlich den „Würger“ zu bezeichnen.

La longue nuit (The long night) by Joanna Maeyens
La longue nuit (The long night) by Joanna Maeyens

Auch diejenigen, die das Schicksal der Götter vollenden, haben wölfische Unterstützung: In der Unterwelt reißt sich Garm von seinen Ketten in der Gnipahöhle los, auch der furchtbare Fenriswolf – ein Kind des listenreichen Loki – entkommt seinen Fesseln. Gemeinsam mit den Riesen, der Midgardschlange und den Mächten des Totenreiches Hel bestürmen sie die Welten, bevor sich die Götter und die mit ihnen verbündeten gefallenen Helden der Menschen zur letzten Schlacht stellen. Auch Sonne und Mond, die seit ihrer Erschaffung auf ihren Streitwägen über das Himmelszelt fahren, werden von ihren Verfolgern, den Wölfen Mani und Hati eingeholt und verschlungen.

Das Ragnarök endet mit einem finalen Kataklysmus: Der Feuerriese Surt enzündet den Weltenbaum Yggdrassil, die Hauptgötter Odin, Thor, Freyr, Tyr und Heimdall fallen im Kampf mit ihren erbitterten Feinden und die Welt versinkt schließlich in den Fluten, aus denen sie sich – wie durch ein Wunder – aufs neue in jungem Grün erheben wird, wenn die Zeit gekommen ist:

Le guerrier silencieux (The silent warrior) by Joanna Maeyens
Le guerrier silencieux (The silent warrior) by Joanna Maeyens

Seh aufsteigen zum andern Male
Land aus Fluten, frisch ergrünend:
Fälle schäumen; es schwebt der Aar,
der auf dem Felsen Fische weidet.

Auf dem Idafeld die Asen sich finden
und reden dort vom riesigen Wurm
und denken da der grossen Dinge
und alter Runen des Raterfürsten.

Wieder werden die wundersamen
goldnen Tafeln im Gras sich finden,
die vor Urtagen ihr eigen waren.

Unbesät werden Äcker tragen;
Böses wird besser: Balder kehrt heim;
Hödur und Balder hausen im Sieghof,
froh, die Walgötter – wisst ihr noch mehr?

– Völuspá

Ausgestellte Kunstwerke

Über den Autor

Ingmar Hagedorn

Postmoderner Skalde, auf der Suche nach Anklängen an die ewigen Götter in germanischen Mythen und Gedichten.

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