Mythos, Märchen und die Kraft der Krise

In Mythen und Märchen werden die Helden und Heldinnen durch eine Krise zur Veränderung gedrängt, die sich meist als ein Abenteuer manifestiert, das sie auf eigene Faust erleben und das sie schließlich zu einem Zustand der Vollständigkeit und Selbsterkenntnis führt, den sie ohne eine transformative Krise nicht hätten erreichen können.

Eine Krise ist die Erfahrung einer plötzlichen und oft unkontrollierten Veränderung, die einem aufgezwungen wird oder aus der eigenen Tiefe kommt. Wie ein Sturm kommt sie zunächst überraschend, verwüstet, was sich ihr in den Weg stellt, und lässt den Betroffenen schockiert und verzweifelt zurück. Dann folgt meist eine Zeit des Schwebens, in der nichts anderes möglich ist als Lähmung, Verzweiflung und Wut.

Wenn es aber wirklich etwas gibt, was uns Mythen und Märchen lehren, dann ist es, sich dem Umbruch zu stellen und die Prüfung zu meistern, um schließlich inmitten des Sturms eine Perspektive zu schaffen und Licht zu bringen, wo vorher nur Dunkelheit zu sehen war.

In dem Märchen Östlich der Sonne und westlich des Mondes (einer folkloristischen Adaption des Mythos von Eros und Psyche) wird ein junges Mädchen von einem mysteriösen weißen Bären entführt und in ein Schloss gebracht, in dem ihr jeder Wunsch erfüllt wird. Doch so einfach ist das nicht, denn sie muss auch jede Nacht neben einem unbekannten Mann schlafen, den sie nicht ansehen darf. Nach einer Weile – Menschen sind Menschen – kann sie dem Wunsch nicht widerstehen, das Gesicht ihres anonymen Liebhabers zu sehen, doch statt des Monsters, das sie erwartet hätte, entdeckt sie den schönsten Prinzen, den man sich vorstellen kann.

Doch durch ihr Tun wird der Zauber, unter dem er stand, aktiviert, und er muss nun zum Schloss zurückkehren, das östlich der Sonne und westlich des Mondes liegt (symbolisch für das, was jenseits der Dualität liegt), und eine schrecklich monströse Prinzessin heiraten. Sie fleht ihn an, nicht zu gehen, aber letztlich hat er nicht die Wahl, und so wacht sie am nächsten Morgen inmitten des dunklen und düsteren Waldes auf, alleine und nur mit dem Bündel Lumpen, das sie mitgebracht hatte. Die von Kay Nielsen gezeichnete Illustration hat eine ungeheure Kraft, denn sie zeigt die absolute Verzweiflung, die man inmitten einer Krise empfindet. Das Mädchen ist allein, nackt, hilflos, mit sich selbst konfrontiert in diesem dunklen Wald, in den kein Licht scheinen kann.

The White Bear by Kay Nielsen
Der weiße Bär, Illustration (1/5) für Östlich der Sonne und westlich des Mondes (1914) von Kay Nielsen
I'll Search You Out by Kay Nielsen
Ich werde nach dir suchen, Illustration (2/5) für Östlich der Sonne und westlich des Mondes (1914) von Kay Nielsen
In the Midst of the Gloomy Thick Wood by Kay Nielsen
Inmitten des düsteren dichten Waldes, Illustration (3/5) für Östlich der Sonne und westlich des Mondes (1914) von Kay Nielsen

Welche Möglichkeit hat man dann noch? Inmitten der Dunkelheit bleibt nichts anderes übrig als man selbst. Und gerade weil man nichts mehr hat, kann man im Kern geprüft werden. Wer bist du, wenn du nichts mehr hast? Wie hältst du an deinen Überzeugungen fest, wenn die Realität sie immer wieder auf die Probe stellt? Wenn du mit deiner schlimmsten Angst konfrontiert wirst? Wenn du mit deinem sehnlichsten Begehren konfrontiert wirst? Wenn jeder dich dazu drängt, dich zu konformisieren? Im Fall des Mädchens wird ihre Liebe zum Prinzen auf die Probe gestellt und ihre Motivation, mit ihm wieder vereint zu werden. Man könnte dieses Motiv metaphorisch als die Motivation der Seele sehen, sich zu vervollständigen, indem sie das Weibliche und das Männliche in sich vereinigt und so einen Zustand der inneren Erfüllung und Ganzheit erreicht.

Die Suche, die nun vor ihr liegt, wird sie zur Erkenntnis ihrer selbst führen, und durch diese asketische Zeit legt sie die alten Aspekte von sich selbst ab, lässt sozusagen das simple Mädchen vom Anfang des Märchens zurück, um sich zu der Prinzessin zu entwickeln, die sie werden soll. Auf ihrer Reise begegnet sie, wie im Mythos von Eros und Psyche, übernatürlichen Wesen (dargestellt durch Hexen) und erhält schließlich die wertvolle Hilfe der Naturelemente (personifiziert durch die Kardinalwinde). Im Gegensatz zum männlichen Helden erschlägt die weibliche Figur jedoch keine Drachen. Sie wird mit eigenen Prüfungen konfrontiert, und ihr Erfolg wird durch ihre Fähigkeit ermöglicht, die Kräfte der Natur zu mobilisieren, denn auch zu anziehen, vereinen und vertrauen, wie ihre Reise an der Seite des Nordwinds zeigt. Schließlich erreicht sie das Reich jenseits der Dualität, das durch das Schloss östlich der Sonne und westlich des Mondes repräsentiert wird, wo sie ihren Verstand einsetzt, um den Prinzen zu treffen und ihn schließlich von dem Zauberfluch zu befreien, unter dem er gefangen war. Dieser letzte Aspekt ist an sich schon von Bedeutung: Indem sie ihre eigene Suche erfolgreich bewältigt, befreit die Heldin ihr männliches Alter Ego und erlangt Ganzheit, indem sie die beiden, die eins sind, vereint. Die Geschichte endet damit, dass das Paar in Glückseligkeit entschwebt, was wiederum von Kay Nielsen auf der letzten Illustration wunderbar dargestellt wird, auf der sich beide auf einer himmlischen regenbogenartigen Brücke von ihren Ketten entfernen.

The North Wind by Kay Nielsen
Der Nordwind, Illustration (4/5) für Östlich der Sonne und westlich des Mondes (1914) von Kay Nielsen
They flitted away as far as they could by Kay Nielsen
Sie flohen so weit wie sie konnten, Illustration (5/5) für Östlich der Sonne und westlich des Mondes (1914) von Kay Nielsen
East of the Sun West of the Moon by Kay Nielsen
Östlich der Sonne und westlich des Mondes (1914) von Kay Nielsen

Das männliche Pendant zu dieser Erfahrung ist das Märchen Die drei Prinzessinnen von Witenland (die märchenhafte Adaption des Mythos von Yvain oder Owain und der Dame des Brunnens aus den mittelalterlichen keltischen Gralsromanen), in dem sich ein junger Held in einem magischen Land befindet, das metaphorisch für das Gebiet der Transzendenz steht (das, was jenseits der Dualität liegt), wo sein Heldentum durch seine Fähigkeit geprüft und bewiesen wird, drei Trolle zu besiegen und drei Prinzessinnen zu retten, von denen er die jüngste heiratet. Nach einer Zeit des Eheglücks verspürt der Held das Bedürfnis, in seine alte weltliche Realität zurückzukehren. Bei seiner Abreise schenkt ihm seine Frau einen goldenen Ring, der ihm zwei Wünsche erfüllen kann, von denen er einen für seine Rückkehr verwenden muss. Da er aber noch recht unreif ist und noch kein ausgewogenes Verhältnis zwischen den beiden Welten herstellen kann, benutzt er versehentlich beide Wünsche und sitzt schließlich in der weltlichen Realität fest, abgeschnitten von seiner Frau und ohne Möglichkeit, den Weg zurück nach Hause zu finden. Die Krise in dieser Erzählung entsteht durch die Erkenntnis des eigenen Fehlers des Helden, der ihn daran hindert, in sein Königreich zurückzukehren. In diesem Fall wurde der Held mit sich selbst konfrontiert und an sich selbst geprüft, und die erste Lektion, die er lernen muss, um der König zu werden, der er schließlich ist, ist, dass er die Verantwortung für seine eigenen Taten übernehmen muss.

Nach dem ersten Schock beginnt das eigentliche Abenteuer. Im Gegensatz zur vorangegangenen Erzählung geht es bei dieser männlichen Suche nicht nur um die Wiedervereinigung des Prinzen mit seiner Frau, sondern um die Rückgewinnung des gesamten Königreichs, denn seine Frau ist dessen Königin. Dieses Motiv taucht häufig im Mythos auf: Das weibliche Prinzip wird als stabil, passiv und im Wesentlichen an das Land gebunden dargestellt, während das männliche Prinzip die solare, edle, aktive Kraft ist, die sich durchsetzt und mit Unparteilichkeit und Großzügigkeit regiert. Durch die Heirat heiratet der König nicht nur eine Königin, sondern ein Königreich (Natur und Menschen), für dessen Vitalität er dann verantwortlich ist.

In dieser Erzählung wurde der Held durch das Schicksal in dieses Königreich gebracht, nicht durch sein eigenes Streben und seinen Willen. Sein Fehler offenbart seine Unfähigkeit zu herrschen, und die Suche, die er daraufhin unternimmt, offenbart ihn selbst und wirkt als Katalysator für seine Verwandlung, bis er schließlich die Herrschaft über seine königliche Natur erlangt. Zu Beginn seiner Reise fragt der Prinz zunächst alle Anwesenden nach der Richtung des mythischen Königreichs Witenland, aber niemand weiß es. Wie bei der Abreise der Ritter in den Gralsmythen, die getrennt voneinander den Wald betreten, der sie zu ihren eigenen Abenteuern führen wird, muss unser Held seinen Weg allein finden, denn seine Suche ist einzigartig und niemand außer ihm kann seinen Weg finden.

In seinen Abenteuern wird er dann auf härteste Prüfungen gestellt und seine eigene Stärke offenbart. Sein Kampf wird in der zweiten Illustration dadurch veranschaulicht, dass er der Kälte und der Nacht (im Gegensatz zu der Wärme und dem Überfluss, die er in seiner früheren Glückseligkeit in dem Schloss erlebt hatte) entschlossen entgegentritt; sein Gesichtsausdruck und seine Regungen wurden von Kay Nielsen sehr eindrucksvoll dargestellt.

Indem er die ihm auferlegten Strapazen überwindet, beweist er schließlich seine königlichen Eigenschaften und erreicht sein Ziel, indem er sein Königreich und seine Königin zurückholt. Doch bei seiner Ankunft erkennt ihn die Königin nicht, denn sein Aussehen hat sich durch die Prüfungen verändert und sein ausgezehrter Körper war ihr unbekannt. Dann erkennt sie ihn an dem goldenen Ring, den sie ihm als Symbol für ihre Einheit geschenkt hatte.

The three princesses in the earth
Die drei Prinzessinnen stehen in die Erde bis zum Kopf, Illustration (1/3) für Die drei Prinzessinnen aus Witenland (1914) von Kay Nielsen
The young King looks for Whiteland by Kay Nielsen
Der junge König sucht Witenland, Illustration (2/3) für Die drei Prinzessinnen aus Witenland (1914) von Kay Nielsen
The reunion of the King and his queen
Die Wiederverinigung des Königs und der Königin, Illustration (3/3) für Die drei Prinzessinnen aus Witenland (1914) von Kay Nielsen

Zu Beginn beider Märchen wurden der Held und die Heldin auf ihrer Odyssee in das Reich der Transzendenz durch äußere Umstände unabhängig von ihrem Willen angetrieben. Die Krise, die beide erleben, markiert den Wendepunkt, an dem sie zum ersten Mal ihren freien Willen ausüben können: Sie können entweder umkehren und den Ruf zum Abenteuer ablehnen oder sich den Prüfungen stellen und ihr Schicksal annehmen. Von nun an würde ihr Erfolg ganz von ihrer Bereitschaft abhängen, weitere Entwicklungen in Gang zu setzen. Sie würden die Hilfe der Natur oder die Hilfe äußerer Personen, Kräfte und übernatürlicher Wesen erhalten, aber sie mussten selbst agieren, um ihre eigene Glückseligkeit oder die Vereinigung ihrer Seelen zu erreichen.

Beides bewies eindeutig ihre jenseitige Eigenschaft. Nachdem sie zum Abenteuer berufen worden waren, durchliefen sie das, was Joseph Campbell die Heldenreise nannte, die Durchquerung des Unbekannten, wo sie sich ihren Ängsten stellten und sich schließlich selbst im Angesicht des Widerstands begegnen würden. Beide waren zu Beginn ihrer Reise noch nicht bereit, das Seelenglück zu ertragen, in das sie sich stürzten: Beide handelten unreif und konnten nämlich nur ihre Naivität für ihr Leiden verantwortlich machen. Aber auch hier betonen die Märchen, dass eine Kraft in sich selbst immer als Katalysator für Veränderungen wirken wird, wenn die Zeit gekommen ist und die Erfahrung gebraucht wird. Im Angesicht der Verzweiflung kann man natürlich nicht erkennen, dass eine Transformation notwendig ist. Dennoch hat man die Wahl, sich zurückzuziehen oder sich den Prüfungen zu stellen, die letztlich zur Ganzheit führen.

Das Schönste an Mythen und Märchen ist die klare Veranschaulichung, dass der Topf voller Gold immer am Ende des Weges liegt, dass kein noch so harter Kampf jemals von Dauer sein wird und dass mutige Bemühungen am Ende immer Glück und Erfüllung mit sich bringen werden. Dieser Grundsatz ist in der Tat überall zu bemerken, sei es in den Mythen oder in der bloßen Beobachtung der Natur: Wie hart ein Winter auch sein mag, die Sonne wird immer wieder zurückkehren und erneut scheinen, so wie jeder Winter den Samen des Frühlings in sich trägt. Diese Perspektive sollten wir uns vor Augen halten, wenn alles nur dunkel, beängstigend und hoffnungslos erscheint.

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Über den Autor

Alexandra Caillaud founder of Mythopoetic

Alexandra Caillaud

Mythologie-Liebhaberin und Gründerin von Mythopoetic.

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